Weltanschauung im Garten
Bereits der erste Bebauungsplan für den Dulsberg aus dem Jahre 1903 wies in einem ansonsten eng bebaubaren Quartier zwei Grünflächen auf. Eine kleinere an der heutigen Probsteier Straße, die als Spielplatz dienen sollte und auch als solcher realisiert wurde. Und eine größere, im Schnittpunkt der geplanten Hauptstraßen gelegen: Eine von Wegen ornamental gegliederte Rasenfläche mit locker verteilten Gehölzpflanzungen und platzartigen Aufweitungen – eine davon als Kirchplatz vorgesehen. Diese Schmuckanlage im spätlandschaftlichen Stil des 19. Jahrhunderts sollte allenfalls gemessenen Schrittes durchwandelt, sicher nicht durch die Nutzer „in Besitz genommen“ werden. Die damals laut werdenden Rufe nach Benutzbarkeit und einer neuen Formensprache öffentlicher Parks schätzte Planverfasser Eduard Vermehren (1847–1918), von 1901–1907 Oberinspektor des Ingenieurwesens und ein Gestalter der alten Schule, offenbar wenig.
Angesichts dieses ersten Bebauungsplans schien es dem seit 1909 als Hamburger Baudirektor amtierenden Fritz Schumacher (1869–1947) nicht nachvollziehbar, dass ein Gebiet mit der Einwohnerzahl einer Kleinstadt nur einen einzigen Grünfleck „unbegreiflicherweise mitten im Zug einer Ausfallstraße“ haben sollte. Im Gegensatz zu Vermehren stand Schumacher progressiven Kräften in Architektur und Gartenkunst nahe, für die in öffentlichen Gärten nicht Repräsentation, als vielmehr ein unmittelbarer sozialer Nutzen im Vordergrund stehen sollte: für Sport, Kinderspiel oder auch als Versammlungs- oder Picknickplatz.
Diese Überlegungen beförderten eine neue, als „Reformgartenkunst“ bezeichnete Ästhetik, die ihre Nähe zum Hochbau nicht verbarg: Stolz nannten sich Gartenkünstler nun „Gartenarchitekten“, planten Grünanlagen wie Zimmer eines Hauses als Funktionsräume von geometrischem Zuschnitt. Umgekehrt war seitens des Hochbaus zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Annäherung zur Gartenkunst zu verzeichnen: Inspiriert vom Prinzip des aus England kommenden „Garden City Movement“ entwarfen in den 1910er Jahren auch deutsche Stadtplaner Siedlungen mit großzügigen zentralen Grünanlagen. Diese „Innenparks“ sollten das gestalterische und ideelle Kernstück modernen Siedlungswesens darstellen und eine physisch und psychisch gesunde Generation von Stadtbewohnern bilden helfen. Diesem Anspruch sollte nun auch der Dulsberg genügen.
Schumacher als Stratege
Hatte Schumacher bereits die Reform des Kleinwohnungsgesetzes 1918 durch Publikationen strategisch geschickt befördert und durch Bekanntmachungen flankiert (Hipp 2009), so scheint er auf dem Dulsberg mithilfe der „Patriotischen Gesellschaft von 1765“ nicht weniger geschickt agiert zu haben. Die Patriotische Gesellschaft ist ein von Hamburger Bürgern getragener gemeinnütziger Verein, der sich seit der Aufklärung für Verbesserungen im öffentlichen Sektor einsetzte: Die Einführung des Kartoffelanbaus und des Blitzableiters in Hamburg, die Gründung der ersten Sparkasse in Europa sowie die Gründung öffentlicher Bücherhallen und Museen gingen auf die bis heute bestehende Gesellschaft zurück. Mit Blick auf Dulsberg suchte der gesellschaftseigene „Ausschuss für das Siedlungswesen“ 1917 in Gesprächen mit Schumacher und der Baudeputation zu klären, wie sich „die Kleinwohnung für die minderbemittelte Bevölkerung“ durch Einzelhäuser oder maximal dreigeschossige Mietshäuser wirtschaftlich bauen ließ, ohne auf die geschmähten „Mietskasernen“ zurückgreifen zu müssen.
Der Ausschuss war mit engagierten Fachleuten wie Dr. Knauer, Rudolf. Bendixen und E. Neue sowie dem Architekten Hugo Groothoff (1851–1918) besetzt. Dennoch kritisierte Schumacher diesen Vorstoß als „uferlosen Idealismus“. Aber die Forderungen der Patriotischen Gesellschaft kamen ihm sicher nicht ungelegen, unterstützten sie doch seinen Wunsch nach vollständiger Überarbeitung des alten Bebauungsplans. Der von der Patriotischen Gesellschaft überarbeitete Bebauungsplan ähnelte Schumachers wenig später vorgelegter Lösung zudem auffallend und legt die Vermutung nahe, Schumacher habe Einfluss genommen, um möglichst große Übereinstimmungen mit seinen eigenen Vorstellungen zu erzielen.
Der 1917 verabschiedete neue Bebauungsplan ließ den zentralen Grünzug bogenförmig nach Südosten schwenken und schuf damit Raum für eine kreuzende, Spielplätzen gewidmete Grünachse. Im unmittelbaren Umfeld des Grünzugs hatte Schumacher die Bauhöhe „herabgezont“ – überwiegend auf drei Geschosse reduziert – was einen organisch wirkenden Übergang von den Vegetationsflächen zu den weiter entfernten, maximal fünfgeschossigen Baukörpern schuf.
Der Schöpfer zeigte sich angesichts der Entwicklung der eigenen Gestaltungsprinzipien selbst überrascht: „Ich merkte mit einer Art innerem Staunen, dass ich eine neue Sprache beherrschte […].“ (Schumacher, Stufen des Lebens)
Dass es gelungen war, trotz Herabzonung noch Platz für einen weitläufigen Freiraum für Erholung und soziale Interaktion zu generieren, vermerkte Schumacher später stolz: Es möge „im ersten Augenblick wie ein Wunder“ erscheinen, belege aber, dass man städtebauliche Ziele durch Überlegung erreichen kann, wenn man nur genügend große Flächen und „wirkliche Bewegungsfreiheit“ habe.
Der Gartendirektor zieht die Register
Die Ausgestaltung des Grünzugs oblag dem seit 1914 amtierenden Hamburger Gartendirektor Otto Linne (1869–1937). Der mit Schumacher gleichaltrige und ebenfalls aus Bremen stammende Linne war bereits Gartendirektor in Erfurt und Essen gewesen, bevor er in Hamburg mit einem Arbeitsberg überhäuft worden war: Die Umgestaltung ehemals privater Parks zu öffentlichen Grünanlagen, die Modernisierung bestehender Grünanlagen und die Schaffung neuer Parks und Spielplätze lag in seinen Händen. Mit Schumacher hatte er bereits bei der kontrovers diskutierten Gestaltung des Hamburger Stadtparks hervorragend zusammengearbeitet. Seit 1919 oblag ihm zusätzlich die Leitung des Hauptfriedhofs Ohlsdorf, dessen großer östlicher Erweiterungsteil hauptsächlich auf seine Planung zurückgeht. Mit dem ersten Bauabschnitt im Südwesten Dulsbergs nahm ab 1921 nun auch der Grünzug unter seiner Leitung Gestalt an.
Der Reformgartenkünstler Linne definierte den Grünzug in Teilabschnitten unterschiedlicher Funktionen: Ein großer Spielrasen und ein weitläufiger Sandspielplatz, blumengeschmückte „Alte-Leute-Gärten“ und „Erzählersenken“ – ungefähr halbrunde, flache Rasentribünen mit formalen Heckeneinfassungen; dazu interpretierte Linne die Spielplatzachse sportlich, mit Rasensportfeldern und einer „Kampfbahn“. Unangefochtener Höhepunkt des Ensembles war ein Planschbecken, dass im Sommer von Kindern wimmelte: Ein kleiner Stadtpark im Quartier!
Indem Linne die von flachen Wiesen- und Sandflächen bestimmten Teilräume untereinander, vor allem aber gegen die umgebende Bebauung mit regelmäßigen Baumreihen und Hecken absetzte, führte er die Herabzonung der Architektur in der Vegetation fort. Und hatte Schumacher durch den bogigen Verlauf des Grünzugs dafür gesorgt, dass keine schier endlosen Raum- oder Straßenachsen entstünden, ließ nun die fast perfekte Spiegelsymmetrie der Einzelgärten den Eindruck einer Mittelachse des gesamten städtebaulichen Ensembles entstehen: Ein selten erreichtes Ineinandergreifen von Städtebau und Gartenarchitektur.
Nach Linnes Pensionierung im Jahr 1933 – vermutlich wegen politischer Differenzen mit dem NS-Regime – geriet die Fortführung des Grünzugs bis zur damaligen Landesgrenze nach Wandsbek ins Stocken. Die bis dahin geschaffene Gestalt war indessen eindrucksvoll genug und bestand bis in die Jahre des Zweiten Weltkriegs.
Alles auf Null
Sogar nach den Flächenbränden vom Juli 1943 zeigte sich der Grünzug in seinem Baumbestand erstaunlich geschlossen. Erst die kalten Nachkriegswinter ließen die Bäume als Heizmaterial in Notwohnungen und in den blechernen „Nissenhütten“ verschwinden, die auf der großen Wiese an der Vogesenstraße errichtet worden waren. Zusätzlich wurden die Binnenstrukturen des Grünzugs durch privaten Gemüseanbau der Bewohnerschaft überformt und südlich der „Kampfbahn“ eine Trümmeraufbereitungsanlage errichtet: Im Grünzug bildete sich die „Stunde Null“ der Gesellschaft ab.
Weit entfernt davon, die vernichtete Gartenarchitektur der Vorkriegszeit wiedererstehen zu lassen, entwickelte die nach dem Krieg eingerichtete Gartenbauabteilung des Bezirks Hamburg-Nord unter ihrem Leiter Werner Töpfer ein völlig konträres Konzept: Zusammenhängende und weitläufige Wiesenflächen, eingefasst von landschaftlichen Gehölzpflanzungen, sollten von nun an die Anlage bestimmen. Als seien sie aus alten Feldwegen hervorgegangen, querten kurze Fußwege in aufgelockerten Verlauf die Wiesenflächen, ähnlich der Idee des „aufgelockerten Städtebaus“ dieser Zeit. Eine kleine heile Welt, die mit den strengen Formen der Vorkriegszeit brechen und einen Neuanfang für eine offene Gesellschaft versuchen wollte.
Von den alten Funktionsräumen überlebte nur das Planschbecken – ergänzt mit einem rahmenden Belag aus Betonplatten und Asphalt – wie eine Insel im weiten Wiesenstreifen.
Zusätzlich aber schuf Töpfer auf dem Platz der ehemaligen Trümmeraufbereitungsanlage einen neuen und modernen Spielbereich. Mit erkennbarem Stolz erläuterte er, dass die „in Form einer eingedrückten ‚8‘ angelegt(en)“, 225 Meter langen Fahrbahnen „wie auf der Autobahn“ voneinander getrennt verliefen. Mithilfe eines Tunnels werde zudem ein kreuzungsfreier Verkehr gewährleistet. Der dabei entstandene 2,50 Meter hohe Abfahrtshügel werde von den Kindern eifrig genutzt, die „mit den Rollern schneidig heruntergefahren“ kämen und „mit Eleganz in die Kurve“ gingen. Von nah und fern kämen die Kinder „zu diesem neuartigen Spielplatz“.
Spielraum Stadt & Kulturdenkmal
Zwischen den 1960er und -90er Jahren musste die Siedlung mit einer sich wandelnden Sozialstruktur seiner Bewohner fertig werden. Es ging die Rede von Armut, Kriminalität und Verwahrlosung, die sich auch im öffentlichen Grün zeigte. In den 1990er Jahren mehrten sich zudem hamburgweit Klagen, dass Kinder und Jugendliche ihre Spielplätze sogar dann kaum annähmen, wenn diese frisch saniert waren (Baumgarten 1997). Eine neue Planergeneration begriff ihre dringendste Aufgabe daher häufig nicht mehr in der Schaffung flächendeckend durchgestylter Freiräume „am grünen Tisch“. Die Zeit spektakulärer Neuschöpfungen war abgelaufen. Auf dem Dulsberg fokussierten die Planer stattdessen auf eine Einbindung der Nutzer in Planungsprozesse, in Bewusstseinsbildung und pragmatische, oft punktuell wirksame Lösungen (Spalink Sievers 1997) sowie auf die Vernetzung öffentlicher und institutioneller Grünflächen zum „Spielraum Stadt“. Stellvertretend für diese Planungsansätze stehen die in den Jahren 1999–2000 erfolgte Umwandlung des inzwischen funktionslosen Planschbeckens in ein Streetballfeld,die Schaffung eines benachbarten Freiraum-Jugendtreffs und nicht zuletzt die Einrichtung eines Mädchenspielplatzes an der dem Grünzug benachbarten Schule Alter Teichweg .
Auffällig unauffällig? Bei näherer Kenntnis dürfte sich dieser Eindruck wandeln, denn zweifellos: Es war ein großer Wurf, der hier in den 1920er Jahren auch grünplanerisch gelang. Wäre die damals geschaffene Gartenarchitektur noch ansatzweise vorhanden, es genügte wohl, den immerwährenden Ruhm des Grünzugs zu begründen…
Dass es anders kam und eine nach dem verheerenden Krieg sich unversehens demokratisch verstehende Gesellschaft in den 1950ern Tabula rasa machen, dass die in den 1990er Jahren „abgespielte“ Anlage erneut einem gewandelten Selbst- und Gesellschaftsverständnis der Planer und Nutzer angepasst werden würde: Wer hätte es vorhersehen können? Gegen die ambitionierten freirauplanerischen Gesamtlösungen der 1920er und auch der 1950er Jahre wirkten gesamtgesellschaftliche Geschehen: erdrutschartig ab 1943, ab den 1960er Jahren langsam und stetig, übten sie erheblichen Veränderungsdruck aus, der auch eine besondere Anlage wie die auf dem Dulsberg langfristig zu nivellieren drohte. Doch trotz aller gestalterischer und funktionaler Ungereimtheiten im Detail macht eine Stärke der Anlage aus, dass sie sich im Großen so trotzig unbeeindruckt erhalten hat.
Eine neue Zeit produziert auch für ihre Grünanlagen neue, zeittypische Herausforderungen, die mit Geburtenrückgang, Stadtwachstum und Denkmalschutz nur angedeutet sein mögen. Gerade diese nunmehr 100-jährige Bedarf- und Reaktions-Schichtung aber macht den Dulsberg aus. Er wäre mit gewissem Recht als Abbild unserer jüngeren Gesellschaftsgeschichte zu bezeichnen. Je suis Dulsberg!
Literatur
Baumgarten, Heiner: Konzeption „Spielraum Stadt“ für Hamburg, in: stadt+grün, Jg. 46 (1997) H. 5, S. 299–304, S. 301
Hipp, Hermann: Wohnstadt Hamburg : Mietshäuser zwischen Inflation und Weltwirtschaftskrise. Neuausgabe mit aktuellen Beitr., Berlin 2009, S. 13
Schumacher, Fritz: Das Werden einer Wohnstadt : Bilder vom neuen Hamburg, Hamburg 1932
Schumacher, Fritz: Stufen des Lebens : Erinnerungen eines Baumeisters, 1935
Spalink-Sievers, Johanna: Spielraum Stadt : Untersuchungsgebiet Dulsberg-Nord. Unveröffentlichtes Gutachten im Auftrag der Freien und Hansestadt Hamburg, Hannover 1996
Spalink-Sievers, Johanna: Freiflächen-Entwicklungskonzept Dulsberg, in: stadt+grün, Jg. 46 (1997) H. 5, S. 305–310, S. 307f
Staatsarchiv Hamburg, Baudeputation B987, Bau einer Kleinwohnungssiedlung auf dem Dulsberggelände 1917-1926. Abschrift im Hamburger Denkmalschutzamt, Inv-Nr. 500002036
Töpfer, Werner: Aus Trümmeraufbereitungsanlage wird eine Rollerbahn, in: garten und landschaft, Jg. 64 (1954), S. 17