Der Film Schloss Gripsholm basiert auf Kurt Tucholskys gleichnamigem „Roman“ aus dem Jahr 1931. Tucholsky nennt ihn „eine Sommergeschichte“. Nehmen wir das Buch zur Hand, soll uns bereits die erste Seite davon überzeugen, dass wir es mit etwas ganz und gar Belanglosem zu tun haben. Denn hier lesen wir, wie sein Verleger Ernst Rowohlt schreibt:
„Lieber Herr Tucholsky,
[…] Nun möchte ich [..] wieder einmal die »schöne Literatur« pflegen. Haben Sie gar nichts? Wie wäre es denn mit einer kleinen Liebesgeschichte? Überlegen Sie sich das mal! Das Buch soll nicht teuer werden, und ich drucke Ihnen für den Anfang zehntausend Stück. Die befreundeten Sortimenter sagen mir jedesmal auf meinen Reisen, wie gern die Leute so etwas lesen. Wie ist es damit?“[1]
Tucholski winkt mit einer typischen Künstlerphrase ab: wer liebe den heute noch? Dann wolle er schon lieber eine leichte Sommergeschichte liefern, so etwa in folgendem Stil:
»Die Gräfin raffte ihre Silber-Robe,
würdigte den Grafen keines Blickes
und fiel die Schloßtreppe hinunter«[2]
Das Thema des Romans ist allerdings nicht ganz so seicht, wie uns die Tarnung als Urlaubsgeschichte zunächst glauben machen will. Es ist die Verflechtung von Herrschaft und Liebe, Besitz in seinen vielen Formen. So ist bereits die erste Sequenz des Romans, der Briefwechsel zwischen Rowohlt und Tucholsky, fingiert, um das Werk und die Umstände seiner Entstehung in den Herrschaftskontext einzubeziehen.
Dies gelingt Tucholsky mit einigem Witz, wie sich exemplarisch in der angeregten Korrespondenz zwischen Verleger und Autor zum Thema Geld zeigt: Ohne 15 % honorarfreie Exemplare, so Rowohlt, könne ein Verleger überhaupt nicht existieren, würde glatt verhungern und das werde Tucholsky doch nicht wollen. Dieser aber kontert, Rowohlt solle seinem harten Verlegerherzen einen Stoß geben, nicht mal bei 14 % falle ihm etwas ein – er dichte erst ab 12 %.[3]
Doch ohne die Antwort des Verlegers abzuwarten, zieht uns der Erzähler in die Romanhandlung hinein und nimmt uns mit auf die Reise:
„Ich schreibe diesen Brief schon mit einem Fuß in der Bahn. In einer Stunde fahre ich ab – nach Schweden. Ich will in diesem Urlaub überhaupt nicht arbeiten, sondern ich möchte in die Bäume gucken und mich mal richtig ausruhn.“[4]
Tucholsky verlegt die Handlung nach Gripsholm, also irgendwo in die skandinavischen Weiten; eigentlich ganz egal wo, nur weg von Berlin und der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Moralvorstellungen und Regeln, denen er entfliehen will. Schweden kommt ihm da gerade recht: Dort, so der Erzähler, habe „einer, der in diesem Lande herrschen will, wenig Gelegenheit dazu. Man verstände ihn gar nicht; man lachte ihn aus und ginge seiner Wege.“ [5]
Im vorgeblich unpolitischen Schweden bringt er seine Protagonisten auch gleich noch in einem alten Schloss unter, mit seinem schweren, behaglichen Stil: damit scheinen wir gleichsam der Zeit enthoben. Und vor dieser Kulisse entfaltet Tucholsky dann seine ideale Lebens- und Liebesgemeinschaft.
Tucholsky und Lisa Matthias im schwedischen Läggesta (1929) – Sonja Thomassen. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons.
Die Verhältnisse des Romans, in denen „die Sittlichkeit mit der Moral im Streite“ liegt,[6] scheinen aber auch sozialpolitisch relevant: Immer wieder werden die Helden der Geschichte von der „Gesellschaft“ und der Notwendigkeit, mit ihr oder gegen sie zu leben, eingeholt: „Wir hatten geglaubt, der Zeit entrinnen zu können“, verrät der Erzähler, aber: „ Man kann das nicht, sie kommt nach“.[7]
Es ist sicher kein Zufall, dass der räumlich-überzeitliche Hintergrund des Romans ein Garten ist, bildet doch der Garten des Paradieses den im kollektiven Gedächtnis verankerten Bewährungs- und Verfehlungsraum. Die sexuell-moralische Doppelbödigkeit dieses Sehnsuchtsortes schwingt natürlich auch bei „Schloss Gripsholm“ mit. Ganz besonders gilt dies im Medium Film, denn Herrschaftsgärten wie der von Gripsholm sind immer auch Bühnen gewesen, in denen sich die Besitzer und Gäste voreinander inszenieren, Rollen spielen oder aus ihnen herausfallen.
Tucholsky hat unter einer Reihe von Pseudonymen veröffentlicht: Peter Panter, Theobald Tiger, Ignaz Wrobel und Kaspar Hauser. Im Roman wird der Erzähler unter Namen wie Peter, Fritzchen und Daddy angesprochen. Mit der Verfilmung von Xavier Koller im Jahr 2000 wird Tucholskys Maskenspiel nun noch ein bisschen weiter getrieben: Der Drehort ist eben nicht jenes Gripsholm 50 Kilometer westlich von Stockholm, sondern ein anderes kleines Schloss mit einem wundervollen Garten in Südschweden. Übersetzt könnte man den Ort „Zauberinsel“ nennen. War es leichter, hier zu drehen, als im wirklichen Gripsholm? Der Ort ist jedenfalls gut gewählt, denn das Schloss im Film weist in seiner Backsteinrenaissance und seinen kegelförmigen Kuppeln und einem breiten Wassergraben tatsächlich einige Ähnlichkeit mit dem realen Gripsholm auf. Es verfügt jedoch darüber hinaus über seine ganz eigene Geschichte, die dem Film eine weitere Facette hinzufügen kann:
Das Schloss unserer Zauberinsel wurde im 18. Jahrhundert für eine weitverzweigte Adelsfamilie erbaut: Die repräsentativen, geometrischen Gartenanlagen wurden von dem seinerzeit berühmten Architekten Carl Hårleman (1700-1753) gestaltet, der auch das Stockholmer Schloss erbaute.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der Barockgarten auf der Zauberinsel dann umgestaltet. Inzwischen hatte nämlich die landschaftliche Gartenkunst in Schweden Einzug gehalten. Während die alten Gärten im Stil Versailles als abschreckendes Beispiel einer verkünstelten Herrschaftsarchitektur galten, assoziierte man landschaftliche Gartenkunst mit Freiheit, Natürlichkeit und bisweilen sogar mit Demokratie. Viele Herrscher formten damals ihre ererbten geometrischen Gärten landschaftlich um, um ihre aufgeklärte Einstellung zu demonstrieren.
Häufig wurden jedoch nicht alle Spuren der alten Barockgärten getilgt: man wollte die Erinnerung an die Tage der schwedischen Großmachtzeit im 17. Jahrhundert nicht ganz wegwischen. Und so blieben auch auf der Zauberinsel einige der alten geometrischen Grundstrukturen bei dieser landschaftlichen Umgestaltung erhalten. Die schwedische Gartenhistorikerin Åsa Klintborg Ahlklo bezeichnet den Ort dieser Zeit als einen mit landschaftlichen Formen verkleideten Barockpark,[8] der dort bis ins letzte Viertel des 19. Jahrhunderts vor sich hin schlummerte.
Vor 140 Jahren machte sich dann eine schillernde Persönlichkeit auf den Weg zur Zauberinsel, von der ich mehr erzählen möchte: Olof Eneroth. Er verstand sich selbst als Agitator der Volksbildung und der Demokratisierung seines Landes. Er war Doktor der Philosophie, Gartenautor, Obstforscher und hatte auch die gärtnerische Oberaufsicht über die gräflichen Güter inne. Auf der Zauberinsel fand er den Garten 1874 in völliger Verwahrlosung vor: Nichts zeugte von irgendeinem gärtnerischen Bemühen, das Unkraut überschwemmte die Beete. Etwas Unordentlicheres hatte er, so seine Bestandsaufnahme, nie zuvor gesehen. [9]
Eneroth nutzte seinen Aufenthalt, um mit einem neuen Gartenentwurf nicht nur mit dem Unkraut aufzuräumen. Er schlug auch eine modernere Führung der Wege vor, wollte die vorhandene Gartenmauer entfernen und den Schlossgraben sowie das Spiegelbecken zuschütten lassen. Mit diesen Maßnahmen sollte der herrschaftlich-repräsentative Charakter der Anlage gemildert werden. Der Schlossgarten sollte zukünftig mehr einem modernen Mustergut als einer alten Burg ähneln. Die Öffnung der bis dato introvertierten Anlage sollte durchaus auch eine sozialpolitische Neuausrichtung seines Besitzers verfestigen. Der Graf sollte beispielhaft bei der Kultivierung des Landes vorangehen.
Doch während Eneroth seine geplanten Umgestaltungen in Wort und Bild aufzeichnete, thematisierte er seine sozialpolitischen Hintergedanken dabei nicht. Vor engen Freunden allerdings kokettierte er mit einem Selbstbild als „Schlange im Gras“, die sowohl die Herrschaftselite seines Landes als auch das einfache Volk durch die je passende Form der Agitation bearbeitete. Nichts Geringeres war sein Ziel, als Schweden zu einem demokratischen, allseitig kultivierten und mit der Natur in Einklang lebenden Land zu machen:
„[…] sicher hast Du gemerkt, dass Gartenfragen für mich eigentlich bloß ein Deckmantel sind, ein alter schöner blumengeschmückter Deckmantel für mein Bedürfnis, an der Volkserziehung […] mitzuwirken. Ich bin, wenn ich das selbst sagen darf, eine ‚anguis in herba‘ [Schlange im Gras] in einer gewissen demokratischen Richtung. Unsere Grafen und Barone […] haben heute einen gewissen Schauder vor der ‚Halbbildung des Packs‘. Sie sind unzugänglich, wenn man ihnen in dieser Frage direkt ans Leder geht. Kommt man darauf von der Gartenseite, so geht es besser, und auf diese Weise keilt man in die kompakte Masse der gräflich hohen Dummheit in Fragen der Volkserziehung die eine und andere kleine Idee, eingebacken in Spinat und Apfelmus; und – so geht’s.“
Bei der Umgestaltung der Zauberinsel hat Eneroth einige seiner Vorstellungen durchsetzen können: Die Anfang des 19. Jahrhunderts begonnene Verlandschaftlichung wurde weiter entwickelt und alte Spuren der barocken Anlage verwischt. Dennoch wurden bei weitem nicht alle seiner Vorschläge umgesetzt. So sehen Sie im Film sowohl den Schlossgraben als auch den Spiegelweiher noch bestehen. Allerdings scheint auch Eneroths Agitation auf den Grafen nicht ohne Wirkung geblieben zu sein. Denn es zeigte sich später, dass dieser sich weniger als Herrscher, denn als Patriarch einer Idealgesellschaft verstand und die Garten- und Landwirtschaftskultur seiner Besitztümer energisch förderte.
Auch Tucholsky hat in Schloss Gripsholm die eine oder andere kleine Idee eingebacken, die nicht ganz offen liegt. Zum Schreiben gehört ein Spiel mit Masken ebenso wie zum Schauspielern und Filmemachen. Auf andere Weise ist uns nach wie vor schwer beizukommen, als kompakte Masse nunmehr bürgerlicher Ignoranz.
Tucholsky ist an dieser kompakten Masse verzweifelt, hat sich 1935 in Göteborg das Leben genommen. Er wurde auf Initiative seiner schwedischen Vertrauten Gertrude Meyer auf dem Friedhof Mariefred bei Gripsholm beigesetzt. Es findet sich viel Tucholsky im Roman und auch im Film. Vielleicht erreicht uns Manches davon.
Hat auch Tucholskys Leben in Hoffnungslosigkeit geendet, die sicher auch den dunklen Zeiten seines Heimatlandes geschuldet war, so hält er in seinem Roman doch eine Szene bereit, die einen Hoffnungsstrahl durchlässt: Auf die Frage, „wie es mit dem Leben“ sei, antwortet der Erzähler:
„Erst habe ich gemerkt, wie es ist. Und dann habe ich verstanden, warum es so ist – und dann habe ich begriffen, warum es nicht anders sein kann.
Und doch möchte ich, dass es anders wird. Es ist eine Frage der Kraft. Wenn man sich selber treu bleibt…“ [10]
[1] Kurt Tucholsky, Schloß Gripsholm : Eine Sommergeschichte von Kurt Tucholsky. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1964, S. 9
[2] Ebenda, S. 10-11
[3] Ebenda, S. 12-14
[4] Ebenda, S. 14
[5] Ebenda, S. 67
[6] Ebenda, S. 190
[7] Ebenda, S. 119
[8] Åsa Klintborg Ahlklo, Kronan på odlarens verk. Trädgårdens betydelse i uppbygnaden av mönstergodset Trolleholm under 1800 talet, Institutionen för landskapsplanering Alnarp, Alnarp 2003
[9] Dies und die folgenden Ausführungen zur „Zauberinsel“ ausführlich bei: Joachim Schnitter, Anguis in herba : Gartenpädagogik und Weltveredlung im Lebenswerk des schwedischen Agitators Olof Eneroth, Disserta Verlag, Hamburg 2011
[10] Tucholsky, Schloß Gripsholm, S. 74