Ada or Ardor : A Family Chronicle [ Ada ou l’Ardeur ]

 

Die folgende Analyse von behandelt den erstmals 1969 erschienenen Roman „Ada oder das Verlangen“ des russischen Schriftsellers Vladimir Nabokov. Die Analyse ist in französischer Sprache in dem Ausstellungskatalog „Des Jardins & Des Livres“, hg. von Michael Jakob, Genf 2018, S. 442-443, erschienen. Das Buch wurde 2018 mit dem René Perchère-Literaturpreis für französischsprachige Werke aus den Bereichen Garten und Landschaft ausgezeichnet.

Auf einer geographisch frei imaginerten „Anti‐Terra“ rekapituliert ein über neunzigjähriges Liebespaar ‐ Geschwister, die für Cousin und Cousine gelten ‐ seinen langen Weg zueinander. Vordergründig eine Familienchronik, verflicht Nabokov „Ada“ zu einem komplexen Gewebe, das „die Textur der Zeit“ offenlegen soll. Angefüllt mit mehrsprachiger Wortakrobatik, werkimmanenten Verweisen und intimen Details tragen die Erzähler im fliessenden Wechsel vor:

„Die Details, die durchscheinen oder durchschatten: blankes Blatt durch hyaline Haut, grüne Sonne im braunen feuchten Auge, tout ceci, Wsjo eto, in triplo und in toto, muss in Betracht gezogen werden; nun bereite Dich auf die Übernahme (des Erzählens, JS) vor.“ [1]

Die sich zu einem schwer durchdringlichen Gewirr von Namensähnlichkeiten und Nebenschauplätzen verdichteten und diffundierenden Geschehnisse sind stellenweise nur für „Wiederleser“ [2] nachvollziehbar und halten wie Dornengestrüpp unerwünschte Besucher ganz fern. Doch „ein paar Leser, diese denkenden Schilfrohre“ [3] sollen einen neuen Kosmos entdecken: Obwohl Adelaida „Ada“ Durmanov und Ivan „Van“ Veen verwöhnten Königskindern gleichen und so anspruchsvoll und narzistisch scheinen, dass die Wahl des geschwisterlichen Lebenspartners wie eine Wahl des eigenen Selbst anmutet,[4] schafft ihre tiefe Vertrautheit ein Reich kristallener Klarheit:

„Unterdes waren sie am rond‐point angekommen – eine kleine Arena, umgeben von Blumenbeeten und verschwenderisch blühenden Jasminbüschen. Oben über ihren Köpfen langten die Arme einer Linde  nach denen  eines Eichbaums  gleich einer grünpaillettierten Schönen im Anflug auf ihren kräftigen Vater, der sie mit den Füßen am Trapez hängend  erwartet. Schon damals verstanden wir beide solche Dinge, schon damals.“ [5]

Als wäre die sexuelle Geschwisterliebe der Zwölf‐ bzw. Vierzehnjährigen nicht Zumutung genug, überhöht sie Nabokov noch darin, dass der elterliche Stammbaum mütter‐ und väterlicherseits mehrfach auf eng verwandte und sogar dieselben Ahnen zurückführt. Doch den durch den Skandalroman „Lolita“ berühmte gewordenen Nabokov treibt  mehr als die Lust am generationenübergreifenden Inzest. Vielmehr ist die Verschmelzung der über Generationen von- und zueinander treibenden Familien eine Kulmination wahren Begehrens. Denn obgleich genealogisch vorherbestimmt, erweist sich ihre Liebe zwischen Ada und Van als tiefempfunden: Angesichts „jene(r) Nichtigkeit staunenswerten individuellen Bewusstseins und junger Genialität, die gelegentlich aus diesem oder jenem bestimmten Atemzug ein nie dagewesenes und unwiederholbares Ereignis im Kontinuum des Lebens macht (…)“,[6] zeigt diese Liebe in ihrer Einzigartigkeit Sinn in einer Welt nur scheinbar austauschbarer sexueller Anziehung.

Van verdichtet seinen inneren Lustgarten zu dem Dreiklang „Ada, our ardours and arbors“ [7]. Ardis, das Anwesen, in dem Van und Ada sich finden, ist sowohl Nabokovs eigenen Kindheitserinnerungen wie auch dem Mythos vom Paradiesgarten verwandt. Als Spross reicher und feinsinniger Eltern genoss Nabokov als Kind die Faszination eines großen Parks mit allen Annehmlichkeiten. Wyra, das ehemalige Gut der Nabokovs, liegt bei St. Petersburg am Ufer des Oredesh. Mit der Flucht vor den Bolschewiki verlor die Familie 1917 diesen und fast allen anderen Besitz. Durch seinen Erfolg als Schriftsteller gelang es Nabokov, sich ein Leben in Wohlstand neu zu erarbeiteten, doch sind viele seiner Werke durchdrungen von Reminiszenzen an das verlorene Kindheitsparadies von Wyra, das er sich so erinnernd immer wieder neu erschuf.[8]

Der Park von Ardis bietet die Grundlage für ein Hauptmotiv des Romans: Schmetterlinge. Denn Ada ist auf botanische und zoologische Details fixiert (wie der Autor selbst: Nabokov war professioneller Lepidopterologe), die sie sinnlich zu genießen versteht:

„Die porzellanweiße Mönchslarve  mit Augenflecken, ein kostbares Kleinod, hatte unversehens ihre nächste Metamorphose vollendet, aber Adas einzigartiges Lorelei‐Ordensband war dahingeschieden, gelähmt von einer Schlupfwespe, die sich von jenen cleveren  Protuberanzen und pilzförmigen Klecksen nicht hatte täuschen lassen. Die bunte Zahnbürste  hatte sich in einem  zottigen Kokon verpuppt und versprach, im Spätherbst zu einer Orgyia persica zu werden.[9]

Adas Passion für Schmetterlinge zieht sich als grüner Faden durch das komplexe Geschehen und findet seine Entsprechung in anatomischen Details der erinnerten Liebesszenen. Die nie nachlassende Exaktheit garantiert Einzigartigkeit und Identität:

„Naturkunde, dass ich nicht lache! Die am wenigsten natürliche Kunde – weil die Präzision der Sinne und des Sinns einem Bauerngemüt unangenehm absonderlich vorkommen muss und weil das Detail alles ist.“ [10]

Im Erinnern wird die vermeintliche Realität seziert und neu, manchmal monströs zusammengesetzt. Die sich wandelnden Beschreibungen spiegeln gleich immer neuen Metamorphosen die Einzigartigkeit augenblicklicher Empfindung trotz eines naturgegebenen Rahmens. Nabokov fasst dies in den Anagrammen insect, nicest, scient und incest.[11]

Die Erzähler verfolgen diesen Gedankenzusammenhang in ihrer Jahrzehnte währenden Liebesgeschichte. Mit sexueller Begierde begonnen und von einer langen Reihe von Treuebrüchen und Trennungen gekennzeichnet, erfüllt die schließlich erst im Alter erlangte (nun asexuelle doch weiterhin körperliche) völlige Zuwendung der Liebenden das Verlangen nacheinander.

„Ada“ zeichnet damit eine Welt, die in detailreicher und in geteilter Subjektivität einzigartiger Liebe ihren Wert bis zur Auflösung des Selbst behaupten kann. Eine Utopie freilich, denn das Paradis Ardis ist auch als Gegenwelt Edens zu verstehen, als ein in Übertretung geschaffener Himmel. Der „Ada“ (russisch „Hölle“) können die Liebenden dabei nicht entgehen; dem „immerwährenden Nichtwähren“ [12] treten „Vaniada“ (russisch „Van und Ada“) aber gemeinsam und würdevoll entgegen:

„In Wirklichkeit hat die Frage des Vorrangs beim Sterben kaum noch irgendeine Bedeutung. Ich meine, der Held und die Heldin sollten zu dem Zeitpunkt, da der Schrecken beginnt, einander so nahe, so organisch nahe sein, dass sie sich selbst überschneiden, überkreuzen, überschmerzen…“  [13]

 

Literatur

[1] Vladimir Nabokov, Adada oder das Verlangen: eine Familienchronik (= Gesammelte Werke Bd. XI) Hg. Dieter E. Zimmer. Aus dem Engl. von Uwe Friesel und Dieter E. Zimmer. Reinbek bei Hamburg 2010, S. 107

[2] Ibid. S. 35

[3] Ibid. S. 107

[4] Dieter E. Zimmer, Nachwort. In: Nabokov, Ada, 2010, S. 827-848, hier s. 837

[5] Nabokov, Ada, 2010, S. 80

[6] Ibid. S. 107

[7] Ibid. S. 111

[8] Joachim Schnitter, Gärten als Kristallisationen von Zeit und Verlust bei Anton Tschechow und Vladimir Nabokov. In: Die Gartenkunst Jg. 25 (2013), Heft 1, S. 231-238

[9] Nabokov, Ada, S. 88

[10] Ibid. S. 107

[11] Ibid. S. 127

[12] Ibid. S. 818

[13] ibid